Die Bewohner haben ihre Behausungen verlassen
Gedanken zum Aufeinandertreffen tierischer und menschlicher Behausungen in der künstlerischen Arbeit „Nest“ von Andreas Bressmer.
Verlassene Vogelnester sind in einem aufgegebenen Hühnerstall versammelt worden und ebensolche verlassene Vogelnester türmen sich auf kleinen Modellhäuschen – eindringlicher kann ein Dialog zwischen Natur und Kultur nicht ins Bild gebracht werden. Beide Male werden wir konfrontiert mit der Frage des „in der Welt Seins“, verkörpert durch die möglichen Erscheinungsformen von Behausungen.
Andreas Bressmer hat lange akribisch gesammelt. Die Faszination für das Vogelnest, hier das verlassene, aufgegebene, ist verständlich, sind sie doch Wunderwerke, perfekt angepasst an die Rundung des Vogelkörpers. Ja, dieser kleine Vogelkörper war Form gebend und wo, wenn nicht hier, kann man den Gedanken der Behausung als einer zweiten Hülle wahrhaft gut nachvollziehen. Das verlassene, gesammelte Nest wird nun allerdings zu einem Objekt und damit zu einer Möglichkeit der Anschauung und hier in Andreas Bressmers Werk zu einem Objekt der künstlerischen Aussage.
Verlassene Vogelnester befinden sich hängend und liegend in einem aufgegebenen Hühnerstall. Der Charme des Ortes wird vom Besucher der Installation sofort wahrgenommen. Er darf dies Kunstwerk ein Stück weit betreten, und unweigerlich wird er vorsichtige Schritte wählen, möchte er die bestehende Ordnung nicht beschädigen. Nur eine zu rasche Bewegung verursacht bereits Luftzüge, die das fragile Gebilde an unsichtbaren Fäden in Bewegung bringt. Sehr sensibel sind sie gehängt, die Nester, sie hängen an schlanken, an der Decke des Raumes verkeilten Ästen. Eine fein anmutende Einfachheit und Stärke der Installation beeindrucken den Betrachter, dessen Blick dann auf weitere, am Boden liegende und auf den Sprossen einer Leiter arrangierten Nester zum Ruhen kommt. Das Licht fällt ein durch ein kleines Fenster im oberen Wandbereich. Eigentlich ist es ein spärliches Licht, doch flutet es den Raum mit einer wunderbar sanften Helligkeit. Vor dem Hühnerstall betont die Andeutung einer Arbeitssituation, dass hier ein Mensch am Archivieren, Konservieren und Systematisieren war. Es wurde ein Nest in ein anderes gebaut.
Das Nest ist ein Versteck für seine gefiederten Bewohner. Es bietet Schutz durch Unauffälligkeit und schlechte Erreichbarkeit. Doch neben weiblicher, bergender Funktion ist dem Nest auch eine große Offenheit zu Eigen. Nichts und niemand wird den flügge gewordenen Jungvogel aufhalten, sich aufzuschwingen; nichts und niemand wird ihn einsperren oder gefangen halten. Die Natur kann sich frei entfalten, auffalten und zur ihr eigenen Form kommen.
Anders natürlich sind die Bedingungen im Hühnerstall. Dieser bietet auch Schutz, stellt vielleicht sogar ein Versteck dar. Doch hier muss sich das Tier dem formgebenden Willen des Menschen fügen. Der Mensch hat die Behausung nach seinen Kriterien der Sicherheit und Effizienz gebaut, ganz so, wie er auch mit sich selbst verfährt. Sesshaftigkeit hat mehr Sicherheit durch Kultivierung errungen, aber natürlich auch gleichzeitig den Aspekt der Freiheit verblassen lassen. Hat der Hühnerstall eines Bauernhauses noch einen gewissen Charme im Eingesperrtsein vorzuweisen, so ist doch der Weg zur Effizienz einer Legebatterie schon vorauszuahnen. Natürlich, nicht nur für das Tier baut der Mensch kubische Räume, sondern in erster Linie für sich selbst. Sämtliche kulturelle Errungenschaften des Menschen haben neben Verbesserungen der Lebensbedingungen aber auch dessen unwürdigste Behausungen hervorgebracht.
Die zweite Werkgruppe in Andreas Bressmers Arbeit „Nest“ zeigt Fotografien surrealer Arrangements. Verlassene Vogel-nester „thronen“ auf kleinen Modellhäuschen, sie scheinen diese fast in die Knie zu zwingen. Verschiedene Wohn-hausformen finden in dieser fotografischen Arbeit Verwendung: Wohnsilos älterer und neuerer Art, sowie auch adrette Villen und Einfamilienhäuser. Doch auf allen diesen Dächer findet ein „gefühlt riesiges“ Vogelnest seinen Platz. Und diese sind keine so wunderbar schmückende Nester, wie die des Storches, auf den wir mit Stolz blicken und uns freuen, dass er sich dazu herablässt, auf unseren Gebäuden seine Nachkommen aufzuziehen. Nein, diese Nester auf jenen Häusern werden für uns und unser Weltbild zur Bedrohung. Vielleicht bleibt uns nun nichts anderes, als, ganz klein, aus den Fenstern heraus zu klettern und in die Nester zu krabbeln. Wir werden dort vielleicht neue Horizonte sehen und utopische Wohnformen aussinnen, die uns bestenfalls zu neuen Lebensformen beflügeln werden. Natur und Kultur treten durch diese fotografischen Arbeiten in einen heftigen Dialog, der nicht ohne ein Messen der Kräfte vonstatten geht.
In beiden Werkgruppen der künstlerischer Arbeit „Nest“ von Andreas Bressmer ist neben einer wunderbar leichten und selbstverständlichen Gestaltungskraft auch eine große reflexive Kraft enthalten, die uns neu über unser in “der Welt sein” und damit verbunden unseren Standpunkt in der Natur gewahr werden lässt.
Text . Kathleen Jahn . Juni 2021
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